greatreport.net – Ein Webarchiv zur Performance-Installation ‘The Great Report’. Moritz Frischkorn
Basierend auf der Beobachtung, dass sich Logistikfirmen zu Werbezwecken als Choreographen bezeichnen, untersucht das langfristig angelegte Rechercheprojekt ‘The Great Report‘ unsere eigene Verstricktheit in globale Warenkreisläufe. Die Metapher einer logistischen Choreographie zeichnet das Bild einer reibungslosen, effizienten Verschaltung von Material-, Informations- und Migrationsströmen. Dabei werden die menschlichen und ökologischen Kosten von Transport, die neokoloniale und militarisierte Dimension des Welthandels und die Spezifizität lokaler Kontexte unterschlagen. Um zu zeigen, dass die Logistik kein royales Ballett ist, habe ich mich zusammen mit der Filmemacherin Paula Hildebrandt, dem Fotografen Robin Hinsch und der Sound-Künstlerin Nour Sokhon auf eine verschlungene Reise durch die Schattenseiten der Logistik begeben. In aufwendigen Recherchen in Nigeria, im Libanon und auf der Insel Kreta haben wir unsere eigene Komplizenschaft in neokoloniale Strukturen von Ausbeutung und Umweltzerstörung untersucht. Das gesammelte Material wurde im Januar 2020 zunächst auf Kampnagel, Hamburg als Installation (Bühne: Vladimir Miller) präsentiert, in der ein von Maria F. Scaroni erarbeiteter Trauertanz gezeigt wurde (Musik: Katharina Pelosi, Dramaturgie: Heike Bröckerhoff).
Im Rahmen des DIS-TANZEN Solo Stipendiums habe ich das bereits rudimentär angelegte Webarchiv ausgebaut und ins Englische übersetzt. Auf der Webseite www.greatreport.net sind aufwendige Reportagen zu allen drei Recherchereisen nachzulesen: Auf der Spur europäischer Altwaren dokumentieren wir die horrenden Öl-Verschmutzungen im Niger-Delta. Auf der Insel Kreta gehen wir auf die Suche nach dem Paradies, dass sich als Ressourcen-intensive Infrastruktur basierend auf Wasser und Öl herausstellt. Und in Beirut recherchieren wir über fehlendes Müllmanagement, grassierende politische Korruption und die unwahrscheinliche, quasi-alchemistische Praxis der Landgewinnung aus Müll. Zusätzlich zu diesen drei Reisereportagen sind jetzt auf der Webseite auch die künstlerische Arbeit von Maria F. Scaroni und Vladimir Miller dokumentiert. Mit der Tänzerin Scaroni habe ich eine Reihe von Interviews geführt, in der sie über den Entstehungsprozess der Performance, ihre persönlichen Referenzen und die Frage nach einer zeitgenössischen Form eines Trauertanzes zwischen Rave und Rollerskating, zwischen Trauergesang und exzessiver Lebendigkeit reflektiert. Der Bühnenbildner Vladimir Miller teilt Skizzen aus der Entstehung der Arbeit und gemeinsam reflektieren wir über den kollektiven Prozess einer räumlichen Verhandlung, die dem Bühnenbild zu Grunde liegt. Dabei kommt eine andere Form der Logistikalität zum Zuge. Das Webarchiv www.greatreport.net stellt damit eine beispielhafte, zweisprachige Dokumentation eines aufwendigen Rechercheprojektes zum Verhältnis von Logistik und Choreographie dar. Es verbindet ausführliche Reisereportagen mit der Reflektion über den künstlerischen Umgang mit dem gesammelten Recherchematerial im Medium des Tanzes und der Szenografie.