Berührende Partitur: Eine Recherche über choreografische Methodik durch Satzstrukturen. Yui Kawaguchi

In meiner Arbeit mit vielen Musikern habe ich oft die Partituren, die sie spielen, analysiert und daraus Choreographien entwickelt. Die akribisch konstruierte Musik von Bach, Beethoven oder Ligeti offenbart bei der Analyse die durchdachte Struktur der Komposition, die der Choreographie Spielraum und Ausdrucksmöglichkeiten verleiht.

Die Methode Tactile Score wurde von der japanischen Gesichtstherapeutin Rieko Suzuki und dem Wissenschaftler Yasuhiro Suzuki, Ph.D. entwickelt. Sie beschäftigen sich mit dem Notationssystem der Musik und versuchen es als Medium für andere Ausdrucksformen, z.B. Gesichtsmassage, zu verwenden.

Dabei wird „Höhe und Dauer des Tons“ der Musiknotation durch „Druckstärke und Länge der Massage“ ersetzt, sodass eine Massage-Komposition entsteht. Der „Tactile Score“ kann so mit anderen geteilt und reproduziert werden. In ähnlicher Weise analysieren sie Reim und Grammatik japanischer Sätze, transkribieren Texte strukturell in Musiknotation, was wiederum einem „Tactile Score“ gleichkommt.

Massage ist Bewegung und Druck – das brachte mich auf die Idee, diese Methode für Tanz zu verwenden. Ich dachte mir, dass es möglich sein müsste, die veschiedenen Mittel der Inszenierung systematisch mit Hilfe einer Partitur zu verbinden und dadurch eine komplexe aber einheitliche Umgebung zu gestalten.

(Mehr Infos über diese Methode auf: http://mendora.com/works/researches/taktile/tactile.html#merkel)

Was ich an Tactile Score interessant fand war, dass die Sätze nicht nach ihrer Phonologie, sondern nach ihrer Satzstruktur analysiert und parametrisiert wurden. Ich fühlte eine Möglichkeit, daraus eine unbewusste Botschaft des Sprechers zu extrahieren, welche nicht durch die Worte dargestellt wurde. Daraufhin habe ich es einige Male in meinen Arbeiten verwendet und hatte ein gutes Gefühl damit. Damals hatte ich keine Zeit, auf meinen Arbeitsprozess zurückzublicken, aber ich wollte schon immer einmal diese Methodik erarbeiten. Im März begann ich zuerst damit, Material von damals auszugraben und den Inhalt zu sortieren.

Ich wählte für meine Übung die Rede von Bundeskanzlerin Merkel, die zur Rede des Jahres 2020 gekürt wurde. Der Text ist konkret, klar, gut strukturiert und wurde offiziell ins Englische übersetzt. Bei der Übersetzung des Textes in eine Partitur, habe ich auf meine Arbeiten in der Vergangenheit zurückgegriffen, aber im Nachhinein fand ich viele von ihnen vage. Für die Verbesserung der Qualität der Übersetzung, habe ich die deutsche Grammatikbücher zurate gezogen und verschiedene Sachen ausprobiert. Es gelang mir, eine Reihe von Übersetzungsregeln zu erstellen, welche fast ohne Ausnahmen funktioniert, und so konnte ich auch einen Teil der Rede in Notation übersetzen. Ebenso wurde die englische Übersetzung der Rede in eine Notation umgewandelt. Interessanterweise sind beide in einigen Teilen sehr ähnlich und in anderen sehr unterschiedlich. Der Komponist James Helgason war von der Idee inspiriert, eine der beiden Noten mit Bläsern und die andere mit Schlaginstrumenten zu arrangieren. Er war auch der Meinung, dass diese Methodik auch als Kompositionsmethode sehr interessant ist, da sie zu rhythmischen Strukturen und melodischen Linien führt, die einem normalerweise nicht einfallen würden. Ich bat Helgason zu zeigen, wie die übersetzte Noten musikalisch arrangiert werden könnten.
Anschließend übte ich einige Gedichte und Literaturwerke in Partitur umzuwandeln und bestätigte, dass meine Methode als System funktioniert, da sie auch auf andere Schreibweisen angewendet werden kann und die Ergebnisse von Text zu Text unterschiedlich sind.


Für mich war diese Recherche eine großartige Gelegenheit, nicht nur die Methodik der Partitur zu erarbeiten, sondern auch Sibelius und Touchdesigner kennenzulernen. Dies hat mir viele
Möglichkeiten für die künftige Gestaltung meiner Arbeiten und Projekte eröffnet.

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